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  Wolf Dieter Ernst      
       
 

In Alexander Kluge's film Die Patriotin , there is a character named Gabi Teichert. This character is a history teacher with an ambitious vision: she wants to change the history books by changing history itself. In an attempt to carry her vision to fruition, Gabi Teichert attends a Social Democratic Party convention held in Hamburg in 1977 and asks party members to change history, adding "I mean now!" Here, I will refer to media activism of the 1970's as 'incorporation'. I have chosen to use this term in order to stress the importance of bodily presence as well as the imperative of dealing with death.

 

In this paper I will also discuss a televised play entitled Quadrat 1+2 (1984) by Samuel Beckett, in which dancers appear to be moved on screen as if on a conveyor belt. Once on screen, the dancers follow the marked traces of abstract rules which they apparently do not understand. The center of the square where they perform becomes the crucial point of their "movement ritornell" (Deleuze), as here the dancers collide according to the implied rules of the dance. In what follows, I will provide a close reading of this play following Deleuze in order to return to the notion of media activism which I introduced above. This will also lead to an investigation of another aspect of media activism to which I shall refer as "embracing the rule" (as well as the implications thereof).
transl. Joyce Goggin
 
  [ wolfd@wxs.nl ]
     
 


Aus Anlaß der sehr interessanten und stimulierenden Diskussion im Anschluß am meinen Vortrag zum Medienaktivismus hier an Bord möchte ich dem Reboot-Projekt den ausführlichenText zur Verfügung stellen, auf dem der Vortrag basiert. Der unten stehende Text ist ursprünglich als Beitrag zum Essaywettbewerb der Zeitschrift Lettre International und der Kulturhauptstadt Weimar 1999 entstanden. W.D.Ernst 15.10.99gzz

 


Abstract

Befreien! Aber wie? Becketts Hüftschwung, Kluges Knie

Die Frage Die Vergangenheit von der Zukunft befreien? Die Zukunft von der Vergangenheit befreien? wird in diesem Essay als Herausforderung verstanden, etwas Unmögliches zu denken: Wie kann man eine Befreiung von etwas denken, was als sukzessiv gedacht ist, nämlich Vergangenheit und Zukunft?

Die Frage nach einer Befreiung ist sinnlos, bezieht man sie auf die Abfolge der Zeit allein. Man muß daher Vergangenheit und Zukunft auf ihre Bedeutung hin betrachten. Etwas, was vergangen ist, kann erinnert oder vergessen werden, jedenfalls nicht mehr verändert. Etwas, was zukünftig ist, schafft Möglichkeiten. Die Argumentation verdichtet diese unterschiedlichen Handlungsebenen, geschehenes Ereignis und mögliches Ereignis, zu dem Moment der Entscheidung.

Dieser Moment wird nicht als simple Gegenwart gedacht, sondern ist Entscheidung für eine Zukunft auf Grund einer Vergangenheit. Mit Jacques Derrida kann man diesen Moment als Unmöglichkeit beschreiben, indem hier Vergangenes und Zukünftiges zusammenkommen. Der Moment enthält immer etwas Vorzeitiges, er ist zugleich immer überstürzt. Diese Aporie im Moment der Entscheidung korrespondiert mit der Vorstellung, die mit dem Verb befreien angesprochen sind. Befreien als Verb nämlich paßt nicht in die Begrifflichkeit der Frage. Man kann keine Definitionen befreien. Die Frage, ihre Unmöglichkeit muß daher wie folgt formuliert werden: Kann man Vergangenheit und Zukunft befreit denken? Kann man das und wenn ja, wie?

Zur Beantwortung dieser Frage werden zwei Möglichkeiten diskutiert.

Zunächst wird das klassische Freiheitsideal untersucht. Die Freiheit wird verkörpert. Man wird aktiv, um Freiheit und damit Zukunft zu schaffen.

An Hand eines Films von Alexander Kluge wird diese Möglichkeit von Befreiung diskutiert. Es stellt sich dabei heraus, daß dieses klassisch emanzipatorische Freiheitsideal immer einen Preis fordert, der sich als körperliche Endlichkeit mitzieht. Das ist die Schattenseite.

Dagegen wird mit Samuel Becketts Fernsehstück ein körperloses Freiheitsideal gezeigt. Körperlos ist es, insofern die Befreiung aus den Regeln des Spiels entsteht. Die Verkörperung dient hier nur der Visualisierung der Regel. Die Befreiung ist leichter, insofern sie einem zufällt.

Der Essay überkreuzt diese Diskussion um Befreiung mit einer zweiten Ebene.

Beide Freiheitideale werden ja aus philosophischen Überlegungen hergeleitet und an Hand künstlerischer Arbeiten diskutiert. Man muß jedoch immer einen gesellschaftlichen Kontext dieses Essays mitlesen. Die Fiktionen, die hier behandelt werden, sind im fließenden Übergang zu der Geschichte gedacht. Grundlage dieses Konzepts von Geschichte ist eine zeichentheoretische Überlegung. Jede Geschichte, auch die tatsächliche Abfolge gesellschaftlicher Ereignisse, bedarf der Vermittlung mittels eines Zeichens.

Fiktion und Fakt werden so als Konstrukt lesbar. Derridas Frage Kann man die Geschichte machen, eine Geschichte machen (...)? läd den Moment der Erzählung auf, indem sie die eher abstrakte Diskussion der Zeitlichkeit einer Erzählung für gesellschaftliche Fakten öffnet.

Es ist das Interesse dieser Arbeit, diese gesellschafltichen Bezüge aufzuzeigen. Es scheint, daß dieser Bezug sich in letzter Instanz nur subjektiv konkretisieren lassen kann. Aussagen über größere gesellschaftliche Zusammenhänge müssen daher mit jenen beiden Erinnerungen, als eine Art Stichprobe, in Beziehung gesetzt werden, die den Ausgangspunkt und das unmittelbares Interesse an der Preisfrage darstellen: Eine Erinnerung, einmal in Stein gehauen, einmal in die Haut geritzt. Es geht um einen Versuch der Orientierung, 1998, aus westeuropäischer Sicht von einem Deutschen geschrieben.

Dieser Versuch endet mit der Erkenntnis, daß es sich lohnt, eine leichte Befreiung (ohne Körper) als einen Prozeß zu verstehen, in den ich mich einordnen kann.

Die Vergangenheit von der Zukunft befreien? Die Zukunft von der Vergangenheit befreien? Es ist möglich, so zu denken, jedoch ist es eine Frage der Geduld.

Befreien! Aber wie? Becketts Hüftschwung, Kluges Knie.

Kapitel 1

Dieses Jahrhundert muß nachsitzen.

Alexander Kluge

An einer Landstraße zwischen Bizerte und Tarbarka steht ein Stein mit einer Inschrift darauf. Sie besagt, deutsche Truppen seien 1942 bis zu diesem Punkt gelangt, dann trafen sie auf die Alliierten.

Eher unscheinbar steht der Granitblock dort und es bedurfte eines ermüdeten Reisenden, wie mich, der sich darauf niederließ, bevor dieses Denkmal seine Wirkung zeigte: Eine bis dahin unbekannte nordafrikanische Hügellandschaft entpuppte sich als bereits von meiner Vätergeneration betreten. Deutsche Truppen. Das ging mich an und evoziert Vergangenheit. Dabei mied ich bewußt das Treiben um Ausgrabungen von Karthago auf der Suche nach der Abgeschiedenheit.

Ich wollte an diesem Punkt nicht jener deutschen Geschichte nachsinnen, in die zumindest während zweier Weltkriege die gesamte Welt verwickelt schien. Man durfte also nicht erstaunt sein, überall auf sie zu stoßen. Sie hat ihren Schauplatz eben nicht auf das eigene Land beschränkt. Vielleicht ist es eine Weltgeschichte, und sie eignet den Deutschen nicht einmal. Vielleicht stellt sich aber auch heraus, daß diese, unsere extensive Geschichte für viele Menschen gar nicht stattfand.

Dieser Stein hat nichts mit dem zu tun, was als deutsche Geschichte bezeichnet werden könnte.

Er fixiert einen Punkt, an dem deutsche Truppen 1942 auf alliierte Truppen stießen. Wahrscheinlich spielte diese Straße damals bereits eine Rolle. Was aber ist mit den anderen Linien, die auf diesen Punkt zulaufen, was mit den Hügeln auf der anderen Straßenseite, den Hügeln am Horizont, von den Tälern ganz zu schweigen?

Eine Karte könnte Abhilfe schaffen, man könnte Linien abschreiten, der Karte folgend. Paul Virilio hat das vorgemacht mit seiner Bunker-Archäologie. Heute, im Zeitalter der Koordinaten, käme man tatsächlich zu einem Punkt wie diesem Stein etwa. Einschlagspunkt, den ballistische Bahnen schreiten sich schlecht ab. Erstaunlich, wie man die artifiziellen Breitengrade zur Demarkation der Flugverbotzonen nach dem Golf-Krieg bestimmte. Geraden, Verbindungen zweier Punkte. Die Erde ist eine Wüste aus Sandkörnern geworden.

Dieser inneren Landkarte einer kriegerischen Vergangenheit sann ich nach, während die Tour unterbrochen war. Erst als ich wieder unterwegs war, wurde mir klar, daß mich die Vergangenheit einholte, wo ich sie nicht erwartete. Aber mehr, als einen flüchtigen Respekt fühlte ich nicht, verglichen mit jener Szene, in der ich mich zum erstenmal mit deutscher Geschichte konfrontiert sah.

Als Schüler per Autostop in Frankreich unterwegs wurde ich einmal von einem älteren Herrn mitgenommen. Die eintätowierte, bläulich schimmernde Nummernfolge in seinem Arm, die dieser mir mit der Bemerkung Buchenwald vor die Augen hält: ich wollte mich rechtfertigen und wußte doch nichts zu sagen. Diese Begegnung war schmerzlich real.

Die Vergangenheit von der Zukunft befreien? Wenn diese Vergangenheit tatsächlich befreit werden könnte, besser geändert, das wäre ein Traum.

Diese Erinnerungen assoziiere ich mit der hier gestellten Frage. Warum? Um das zu klären, möchte ich zunächst versuchen, die Fragestellung, die Worte selbst, zu verstehen. Worauf spielen sie an?

Die Frage nach einer Befreiung von Vergangenheit und Zukunft führt mich zunächst zu dem jüngeren der beiden Begriffe, der Vergangenheit. Eine mögliche Antwort fällt hier leichter, denn wir haben zumindest eine Ahnung, was Vergangenheit ist. Es bezeichnet das, was geschehen ist. Es war, es ist nicht mehr zu ändern und einzig über das Spiel von Erinnerung und Vergessen ist es möglich, hierüber zu sprechen.

Vergangenheit wird in der internationalen Ausschreibung des Essay Wettbewerbs mit past übersetzt. Das bedeutet neben Vergangenheit als gleichnamiges Verb soviel, wie durchschreiten, durchgehen lassen, passieren. Es deutet aber auch auf eine räumliche Vorstellung hin als jenseits, hinter einem gewissen Punkt.

Zumindest das Bild, das man sich von dem, was vergangen ist, macht, (und was kann man sich sonst vorstellen, wenn nicht ein Bild?) zumindest dieses Bild evoziert ebenfalls einen Raum, einen "Zeithorizont", an dem die Ereignisse undeutlich werden, je länger sie zurück liegen. Man spricht auch von einer dunklen Vergangenheit.

Damit ist das Motiv des Aufdeckens genannt. Erinnern oder erinnert werden hat mit dem Aufdecken dessen zu tun, was jenseitig, unsichtbar, aus den Augen verloren oder sogar verdrängt scheint. Die Psychoanalyse verbindet mit Archäologie sicher diese Vorstellung einer Verschüttung und Sedimentation von Ereignissen, die wieder ans Tageslicht oder ins Bewußtsein gerufen werden.

Eine Befreiung der Vergangenheit, das wäre zunächst die Vorstellung einer Aufarbeitung, eines Blicks zurück oder ins Innere, ein Erinnern.

Dieser Blick zurück ist im deutschen Sprachgebrauch vielfach diktiert worden. Sprichwörtlich ist der Satz: Wer nicht aus der Vergangenheit lernt, ist gezwungen, sie zu wiederholen.

Und implizit tritt hier die Zukunft auf den Plan, in Form einer an die Vergangenheit gebundenen Perspektive und mithin ebenso düster, wie die nicht bewältigte Vergangenheit, solange man nichts lernt. Lernen aber heißt, Verhalten zu verändern. Zweifellos ist Veränderung nur ein Aspekt der Zukunft neben vielen. Generell geht es eher um die Möglichkeit der Veränderung, um die Möglichkeit, etwas zu tun (oder zu lassen), oder die Möglichkeit eines Ereignisses schlechthin. Das ist nach der Aufdeckung das zweite Motiv. Es bezieht sich auf die Zukunft.

Das ältere Wort Zukunft kennt den räumlichen Sinn von Ankunft, Herankunft, bevor es seine zeitliche Bedeutung annahm. Wenn man sich Vergangenheit und Zukunft räumlich denkt, dann ist der lineare Zeitstrahl nur ein Modell und er bringt etwas Starres hinein. Was, wenn die Zukunft etwas nach rechts abbiegt, oder Vergangenheit und Zukunft in derselben Richtung liegen?

Eine Ankunft sagt ja noch nicht, aus welcher Richtung sie erfolgt, nur daß etwas ankommt, das zuvor jenseitig war.

Komme ich zurück auf den Stein des Anstoßes zu diesem Versuch.

In der Inschrift war von deutschen Truppen die Rede. Diese Rede hat den Begriff der Geschichte hervor gebracht. Geschichte ist der Ablauf aller Geschehenisse. Wie unterscheidet sich Geschichte von Vergangenheit, über die ich ja eigentlich sprechen will?

Zunächst kann man sich seine Vergangenheit vorstellen, sie ist auf eine Person bezogen. Man kann aber schlecht ein Gefühl für die Geschichte als Abfolge aller zufälligen Ereignisse gewinnen. Geschichte erscheint größer als Vergangenheit. Trotzdem drängt sich mir Geschichte auf, dieses Donnerwort. Ich vermute, es ist diese Landschaft aus Denkmälern, historischen Orten, die diesen Eindruck erweckt. Ein ständiger Imperativ in Stein gemeißelt.

Man muß sich das einmal naiv vorstellen.

Ohne Unterschrift wird ein Gedenkspruch, noch dazu in Englisch, also nicht in der Landessprache, an den Weg gestellt. Als ob jeder wüßte, daß die frühen 40er Jahre dieses Jahrunderts immer historisch hervorgehoben sind. Dazu muß man schon einige Denkmäler gesehen, einige Geschichtsbücher gewälzt haben. Und können wir uns ein Deutschland ohne Truppen noch vorstellen? Ich habe "german troops", deutsche Truppen sofort verstanden. Die gab es jedoch nicht immer. Und schließlich dieses Land selbst, auf das sich das Adjektiv deutsche bezieht. Alexander Kluge schrieb einmal:

"Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück - Deutschland."

In diesem, naiven Sinne beharre ich darauf: Der Stein selbst hat mit dem, was mit deutscher Geschichte bezeichnet werden könnte, nichts zu tun.

Man kann ja mit einigem Recht von der Geschichte des Steins sprechen. Seine Entstehung, seine Zusammensetzung, die Art, wie er gebrochen wurde, den Prozeß der Beschriftung. Dann spielt die Entscheidung, ihn hier aufzustellen, eine Rolle. Wie kam man auf die Idee? Wer wollte hier erinnern? Und warum an dieser Stelle? Traf man nur hier aufeinander?

Dieser Kontext stellt sich neben die eigentliche Geschichte. Über ihn kann man nur Vermutungen anstellen, er ist nicht als Teil der großen Geschichte fixiert. Er ist lediglich als kleine Geschichte, als Anekdote zu erzählen. Bedenkt man dazu das Alter eines Steins, so läßt sich nur ungefähr, mit statistischer Wahrscheinlichkeit oder eben als Annahme die Geschichte dieses Steins aufzeigen.

Man sieht schon, wohin diese Überlegung führt. Ein Ereignis muß nur ausreichend gering geschätzt werden, man muß die großen Ereignisse nur in ausreichend kleine Teile zergliedern und man gelangt in den Bereich der Vermutungen. Die Geschichte als Summe der tatsächlichen Ereignisse geht fließend über in den Bereich der Geschichten.

Nun kann man einwenden, daß eine fiktive Geschichte, eine ausgedachte Abfolge von Ereignissen sich doch unterscheide von den historischen Ereignissen. Letztere sind tatsächlich passiert und ihnen wohnt die Macht eines Schicksals inne. Dagegen ist ein fiktives Ereignis immer mittelbar, konstruiert, in die Welt gestellt.

In die Welt gestellt ist aber auch dieser Stein.

Wenn man ursprünglich denkt, daß erst das Aufeinandertreffen der Truppen das Denkmal bewirkte, so läßt sich vom heutigen Standpunkt auch umgekehrt argumentieren. Ohne Denkmal kein Ereignis, keine Geschichte. Die Vergangenheit oder Geschichte, will sie präsent bleiben, braucht, wie jede Geschichte, einen Anstoß, ein Zeichen. Das verbindet beide Formen miteinander, macht sie voneinander abhängig.

Die Medienkritik hat diesen Einfluß der Materialität der Kanäle und Zeichen auf die Geschichtsschreibung erkannt.

In einem tieferen Sinn fragt Jacques Derrida nach der Begründung einer Erzählung. Er setzt sie nicht allein in Beziehung zur Schrift als Zeichensystem. Er fragt allgemeiner nach dem Akt der Erzählung als solchen.

"Kann man ein Ereignis schaffen? Kann man die Geschichte machen, eine Geschichte machen, kann man, ausgehend oder mit Hilfe von einem Trugbild [simulacre] etwas machen (...)?"

Er folgert ganz elementar, daß die Gabe der Erzählung immer die erste Begründung einer Geschichte/der Geschichte ist. Die Gabe der Erzählung selbst läßt sich jedoch nicht begründen. Weder ist diese Gabe ein Wert, den man tauschen könnte, noch folgt sie der Freigiebigkeit als Antrieb. Die Gabe muß überraschen, sie muß sogar so sehr überraschen, daß sie nicht als Gabe erkannt und angenommen werden kann. Die Anerkennung nämlich stellt nurmehr ein symbolisches Äquivalent dar und ordnet die Gabe wieder ein in den Kreislauf von Gabe und Gegengabe, in den Tausch.

Die Gabe der Erzählung meint damit eher den Erzählakt selbst, die Möglichkeit der Erzählung und das Ereignis der Erzählung, als den Inhalt, oder die Geschichte, die erzählt wird. Derrida setzt diese Möglichkeit der Erzählung als Bedingung für eine Geschichte, für die Geschichte, für ein historisches Ereignis. Also zunächst die Geschichtswissenschaft als Möglichkeit einer großen, systematischen Erzählung und dann die Geschichte und nicht umgekehrt.

Diese Betrachtung unterläuft die Einteilung von Fiktion und Fakt. Es ist gleich, ob es sich um eine Fiktion im allgemeinen oder eine literarische Fiktion handelt. "Alles hängt vom Akt des Vertrauens (...) ab."

Wir haben es zum einen also mit der Geschichte als eingeschriebenes Ereignis zu tun. Ein Ereignis als/in Schrift. Dieses Ereignis ist die Gabe der Erzählung, dieses Ereignis gibt, es gibt uns zu denken.

Zum anderen existiert die Art, mit den Ereignissen umzugehen. Sie ist der Modus der Erzählung, nicht die Erzählung selbst. Das könnte man unter Vergangenheit verstehen.

In diesem Sinne ist Vergangenheit nicht, sie ereignet sich, so wie sich Erinnern und Vergessen ereignen.

An dieser Stelle muß die Erinnerung an den Franzosen wiederholt werden. Ich sprach von jenem Arm, in den die Inschrift einer KZ-Lagernummer eintätowiert ist. Im Gegensatz zu jenem stummen Stein ist es hier ein alternder Mensch. Die letzten Zeugen des Holocaust werden bald nicht mehr ihren Arm erheben können. Diese Vergänglichkeit macht das Zusammentreffen so eindrucksvoll.

Dieser Mensch ist mit einem Kapitel deutscher Geschichte, mit dem Namen Buchenwald, verbunden. Mehr noch, er ist Zeuge des Ereignisses, bewahrheitet, wenn man Glauben schenken darf, durch die Nummer. Es ist in die Haut geritzt, wie eine schmerzhafte Narbe, eine prägende Erfahrung. (Man muß den Anstand wahren und hier nicht von einer Verdrehung der Ursache und Wirkung von Geschichte und Zeichen sprechen. Sie fallen einfach zeitlich zusammen.)

Ich schrieb, wenn die Vergangenheit (dieses Franzosen) tatsächlich befreit, besser geändert werden könnte, das wäre ein Traum. Nun können wir präziser formulieren, wenn die Geschichte dieses Franzosen anders zu erzählen wäre, denn als Leidensgeschichte, das wäre ein Traum.

Ohne Verlust des Andenkens, ohne Vernachlässigung einer Pflicht dem Schmerz gegenüber, der hier herrscht, ist das nicht zu machen. Der Schmerz wirkt auf/über den Körper. Dort begründet er seine Geschichte. Schmerz hat keine eigene Zeit, er ist Moment. Dieser Moment des Einbrennens wäre zu verhindern gewesen.

Schauen wir uns nun den letzten der Begriffe an: befreien. Zwei mal wird das Verb befreien in der Fragestellung gebraucht, mit einem Fragezeichen gleich dahinter. Dabei ist augespart, wer hier handeln soll. Es heißt nicht: "Soll man" oder "Kann ich" die Vergangenheit von der Zukunft befreien und vice versa. Dieser Bezug kommt vielmehr über das Fragezeichen hinein, denn es spricht den Leser an. In dem Moment, wo ich die Frage als solche verstehe (und es gibt Gründe, das nicht zu tun), habe ich mir ein Problem angeeignet. Dieses Verb befreien und das Fragezeichen sind gleichsam das energetische Zentrum dieser Konstruktion.

Befreien.

Im Englischen wiedergegeben mit liberate. Nicht mit free. Beides wäre möglich, meint aber nicht dasselbe. Liberate kommt vom lateinischen liberare, was soviel bedeutet wie befreien, aber auch liefern, verwandt mit libri = Buch und liberi = Kinder. Liberate meint u.a. auch, sich von Konventionen zu befreien oder ein Land befreien, bzw, ironisch, es zu besetzen.

Es schwingt etwas von einem Vorgang, vielleicht einer Amtshandlung mit.

Free hingegen, vom selben Stamm, wie das deutsche frei, meint ursprünglich die familiäre Zugehörigkeit im Gegensatz zu den Sklaven. Free ist auf die Person bezogen. Es ist sehr viel reichhaltiger, als liberate, umfaßt das sechsfache an Seiten, wenn man die einfache Übersetzung von free = to make free, also den adjektivischen Gebrauch dazu nimmt. Im Slang findet free sogar die Nähe zum Bereich der Liebesbeziehung, wie sie im niederländischen vrijen = sich lieben oder in Form des Freiers im Deutschen zu finden ist. Diese Bedeutung, im französischen libertin noch enthalten, geht bei der Übersetzung von befreien = liberate ins Englische verloren.

Nun steht in der Übersetzung der enger gefaßte Begriff liberate. Spiegelt sich hier auch eine Enge in der Fragestellung?

Das ist die Provokation und zugleich Unmöglichkeit dieser Fragestellung. Wie soll man etwas befreien, im radikalen Sinne des frei = ungebunden, erlöst mit allen Emotionen, die da hinein spielen, was formal als sukzessiv und sich ausschließend gedacht ist, nämlich als Vergangenheit und Zukunft, getrennt nur durch den Punkt der Gegenwart.

Wie soll man andererseits etwas befreien, ohne allzu schnell jegliche Ordnung der Begriffe zu verlieren, etwa indem man die jeweiligen Zeitvorstellung als Modalitäten einer Gegenwart betrachtet, die alles relativiert, indem sie immer schon vergangen ist.

Wie kann man sinnvoll eine Befreiung denken?

 

Kapitel 2

Ich denke nur mit dem Knie

Joseph Beuys

.

Wir haben festgehalten, daß es einem Moment gibt, an dem eine (Leidens)Geschichte fixiert wurde. Wenn befreien einen Sinn haben soll, könnte dieser sein, diesen Moment, an dem die Geschichte begründet wurde, zu verhindern oder zu ändern. Das ist natürlich unmöglich. Der Sinn von befreien muß sich daher notwendig auf die Zukunft beziehen, auf die noch möglichen Geschichten.

Jacques Derrida fragt ja, Kann man die Geschichte, kann man eine Geschichte machen (...)? Das hieße, wie schafft man Zukunft. Wie beginnt diese und wie kann ich sie zum besseren hin gestalten.

Derrida setzt das unpersönliche man, denn es gibt nicht den Erzähler der Geschichte. Doch wäre es überstürzt, hierin einen fatalen Zug erkennen zu wollen. Zudem wäre das Beispiel des Franzosen in unangemessenen Kontext gesetzt, denn man möchte schon gerne darauf bestehen, daß es hier Täter und Opfer gibt.

Nein, durch Derridas Schriften zieht sich sehr deutlich die Frage der Verantwortung für einen Erzählakt. Nur verhält es sich mit dem Bewußtsein im Moment der Erzählung nicht so einfach.

Ein weiterer Text von Derrida "Gesetzeskraft - Der >>mythische Grund der Autorität<<" soll im folgenden zu Rate gezogen werden, dem ich den Begriff der gerechten Entscheidung verdanke. Diesem Gedanken möchte ich als Analogie folgen, um die besondere Zeitlichkeit zu verdeutlichen, die im Erzählakt eine Rolle spielt. Der Text wird ein Umweg darstellen und ich bitte um etwas Geduld. Er bezieht sich auf einen weiteren Text, Zur Kritik der Gewalt, von Walter Benjamin. Derrida schlägt eine Lesart dieses Texts von Benjamin vor. Ich werde auf diese Diskussion nicht umfassend eingehen können. Wichtig ist mir, daß Derridas Argumentation sich zu einer Stellungnahme oder Strategie verdichtet. Dieser Strategie werde ich dann an Hand eines Filmbeispiels von Alexander Kluge nachgehen, um den Nachweis zu führen, wie eine gerechte Entscheidung, eine gerechte Geschichte mithin, zu erzählen wäre und welcher Preis dafür zu entrichten ist.

In Gesetzeskraft - Der >>mythische Grund der Autorität<< geht es um die Möglichkeit einer Entscheidung, die das Prädikat ‘gerecht’ verdiente. Derrida spricht von der Möglichkeit und zugleich der Aporie einer gerechten Entscheidung.

"Damit eine Entscheidung gerecht und verantwortlich sein kann, muß sie in dem Augenblick, da sie getroffen wird, in dem Augenblick, und der ihr eigener Augenblick ist (gibt es einen solchen Augenblick?), einer Regel unterstehen und ohne Regel auskommen."

Eine Entscheidung, ein Urteilsspruch etwa, darf nicht nur eine blinde Anwendung eines Gesetzes sein, die den Rechtsprechenden auf den Regelvollzug reduziert. Andererseits kann man verlangen, daß nicht willkürlich entschieden und damit das Gesetz ausgehebelt wird.

"Aus diesem Paradoxon folgt, daß man niemals in der Gegenwart sagen kann: eine Entscheidung oder irgend jemand sind gerecht (das heißt frei und verantwortlich); und noch weniger: ‘ich bin gerecht’."

Doch muß jemand zu einem gewissen Zeitpunkt die gerechte Entscheidung verantworten.

Im Moment der Entscheidung schwingt damit immer etwas Unentscheidbares und Abwesendes mit. Es ist "nicht einfach das Schwanken oder die Spannung zwischen zwei Entscheidungen, es ist die Erfahrung dessen, was dem Berechenbaren, der Regel nicht zugeordnet werden kann (...).

Derrida führt dazu aus, wie sich diese Aporie der gerechten Entscheidung in der Zeit situiert, was für unseren Kontext interssant ist.

Zum einen kann die "Prüfung des Unentscheidbaren" nicht abgeschlossen werden, denn man kann nur über den beunruhigenden Zweifel und die Unsicherheit über das, was die Entscheidung bewirken wird, von einer gerechten Entscheidung sprechen. Sonst ließe sich nurmehr wieder ein Regelvollzug nachweisen.

Zum anderen kann eine gerechte Entscheidung nicht hinaus gezögert werden, sie muß "right away" sein. Mehr weiß man wahrscheinlich nicht vom Moment der Entscheidung, als daß sie in einem Augenblick fallen muß, den Kierkegaard treffend als "Wahn" bezeichnet. Zeitmangel der gerechten Entscheidung in der Gegenwart bei gleichzeitiger Zukunft des Zweifels ist Gerechtigkeit und schafft nach Derrida Zukunft.

 

"Die Gerechtigkeit bleibt im Kommen, sie hat, sie ist Zu-Kunft (...). In dem Maße, in der sie nicht einfach ein juridischer oder politischer Begriff ist, schafft darum vielleicht die Gerechtigkeit zu-künftige Offenheit für eine Verwandlung, eine Umgestaltung oder Neu(be)gründung des Rechts und der Politik - öffnet sie vielleicht diese Verwandlung, Umgestaltung oder Neu(be)gründung der Zu-kunft."

 

Ich will diese Gedanken an einem Beispiel verdeutlichen. Es handelt sich um einige Sequenzen aus dem Film Die Patriotin, 1979 von Alexander Kluge veröffentlicht, und ein eigenartiges Knie, das hier eine Rolle spielt. Dieses Beispiel ist vielschichtig, unmöglich, ihm gänzlich gerecht zu werden. Hier sei der Hinweis erlaubt, das es sich um ein durchaus willkürliches Interesse handelt. Nicht nur, was die Entstehungszeit, sondern auch, was die Themen, die Wortwahl betrifft nämlich, fällt der Film unmittelbar in die Zeit meiner politischen Sozialisation.

Rechnet man den Film großzügig einer Generation zu, den sogenannten 68er, so verbindet mich zugegeben mit dieser Zeit nur die Niederschrift meines Geburtsdatums. Das ist jedoch nur die zeitliche Differenz. Es gibt die Sequenz Der Leitantrag, die auf dem SPD-Parteitag in Hamburg 1977 gedreht ist. Man sieht in Ausschnitten den Politiker Egon Bahr mit einer Hornbrille vor einem Slogan auf dem Podium sitzend. Diese Brille, diese Art der Typographie im Hintergrund, die Art sich derart zu präsentieren ist typisch für meine Erinnerung an das, was sich später mit den Begriffen Nachrichten und Politik verbindet und zu dem man eine Meinung haben kann.

Ich rede nicht von einem gelernten Umgang mit diesem Vokabular. Es ist vielmehr ein Gefühl der Zugehörigkeit.

Die Sequenz Der Leitantrag war der Ausgangspunkt zum Film Die Patriotin. Sie zeigt, wie mittels eines Leitantrags ähnlich gelagerte Anträge zusammengefasst werden, unter dem Druck, eine Fraktion (Einheit) zu bilden.

Über diese Regel, die ihre Begründung in der Pragmatik und Zeitersparnis hat, wird nicht diskutiert, zumindest nicht in den offiziellen Reden. Den Deligierten bleibt einzig, die Regel und ihre Anwendung mit ihrer Stimme jeweils nachträglich zu legitimieren, auch wenn dabei beispielsweise die Frage der Kohle oder Kernkraft zur Energiefrage summiert wird.

In diese Dokumentation des Parteitags, z.T. im selben Licht, wie ARD Nachrichtenmaterial gedreht, wird die Figur der Geschichtslehrerin Gabi Teichert (Hannelore Hoger) hinein inszeniert. Sie geht von der Annahme aus, man müsse, um positivere Geschichtsbücher zu erhalten, die Geschichte selbst ändern. Mit diesem Anliegen tritt sie an die Deligierten des Parteitags heran, von denen sie annimmt, daß sie zu historischen Entscheidungen befugt sind. Sie glaubt, man mache hier Geschichte.

"Gabi Teichert: Ich bin Geschichtslehrerin. Ich bin hierhergekommen, weil ich die Geschichte mit Ihnen zusammen verändern möchte. Was halten Sie davon? Ich bin der Meinung, daß das Material für den Geschichtsunterricht an Höheren Schulen nicht positiv genug ist, weil unsere deutsche Geschichte nicht positiv genug ist. Ich möchte jetzt ein anderes Material kriegen, damit ich es verbreiten kann.

Frau Müller: Und hier auf diesem Parteitag möchten Sie dieses Material bekommen?

Gabi Teichert: Ja

Frau Müller: Und haben Sie schon welches bekommen? Haben Sie schon was gesammelt, was sich lohnt?

Gabi Teichert: Das Material kriege ich ja hier nicht. Dazu müssen wir ja erst die Geschichte hier verändern.

Frau Müller: Ja.

Gabi Teichert (greift die Zustimmung auf): Wir müssen die Geschichte verändern, damit wir ein anderes Material bekommen. Und ich möchte jetzt, daß Sie mit mir zusammen (sie blickt hoch auf einen anderen Abgeordneten) und auch mit Ihnen zusammen, daß wir die Geschichte hier verändern.

Frau Müller: Hier an diesem Tisch?"

Über den Doppelsinn von (Staats)Geschichte, die SPD war Regierungspartei, und der hier erzählten Geschichte kommt es zu einem Zirkelschluß, indem der reale Parteitag sich als Schein erweist.

Die Abgeordneten nehmen die kameragerechte Position der Interviewpartner an und antworten auf die Frage einer fiktiven Figur, die sie offensichtlich nicht verstehen, so, als ob sie sie verstünden. Sie spielen unwissentlich mit.

 

Damit wird nicht nur die Grenze von dokumentarischem und fiktivem Film unterminiert, es scheint auch jenes seltene Anliegen gelungen, ästhetische und politische Praxis zu verbinden.

Was heißt das konkret, wo doch der Film den ungerechten Mechanismus nicht verhindert?

Um die Kritik am Leitantrag zu formulieren, reichen eigentlich ein paar Sätze aus. Ein Film hat jedoch mehr Möglichkeiten. Er kann etwas verändern, indem er sich der ungerechten Entscheidungssituation aussetzt.

Voraussetzung dafür ist, daß die filmischen Mittel selbst reflektiert werden. Zu diesen Mitteln gehören dann auch die Dreherlaubnis, die Sitzordnung dieses Plenums, der Bekanntheitsgrad von Abgeordneten und die damit zusammenhängende Verfügbarkeit, die Struktur also dieses Ereignisses schlechthin. Sie ist auf die mediale Vermittlung hin inszeniert. In dieser Struktur bewegt sich das Filmteam, wenn auch mit anderen Interessen, als die journalistische Berichterstattung.

Kluge hat dieses Interesse des Filmens theoretisch mit Oskar Negt als "Gegenöffentlichkeit" formuliert. Gegenöffentlichkeit meint nicht einfach Kritik der herrschenden Scheinöffentlichkeit, deren Teil auch das Medienereignis ‘Parteitag’ ist. Gegenöffentlichkeit meint die Aufhebung der Entfremdung durch das Herstellen zusammenhängender Sinnlichkeit.

Dieser Zusammenhang beginnt bereits bei der Produktion des Films. In diesem Sinne ist also nicht nur der Celluloidstreifen, der dem einfachen Abgeordneten das Wort gibt, das ihm sonst verweigert wird, der Versuch einer Gegenöffentlichkeit, sondern der Akt des Filmens selbst, mit allen daran beteiligten Sinnen und Erfahrungen der Mitwirkenden. Es ist eindrucksvoll einmal zu lesen, wie nachdrücklich sich der Gedanke des Kollektivs durch die Schriften zum Film zieht. Sinnlichkeit meint die körperliche Präsenz, die performative Situation auf dem Parteitag. Letzlich ist das eine ganzheitliche Vorstellung, nämlich Zusammenhänge herzustellen, die als vermittelt erscheinen.

Man kann dieses Filmemachen als "freches Gewerbe" für die befreiende Möglichkeit halten, ein Ereignis zu schaffen, etwas zu bewegen, etwas zu produzieren, dessen Spuren man im Film nur wieder rekonstruieren kann. Das könnte beispielhaft sein. Nicht die Produkte sind entscheidend, sondern die Produktion und das nicht als Philosophie des Unterwegs seins oder als Vanitas-Motiv, sondern allein, weil man so Offenheit bewahrt.

So können zum Beispiel Speichermedien, deren Kapazität bedrohlich zuzunehmen scheint und die die Zeit festschreiben, daraufhin betrachtet werden, ob der Akt der Speicherung in ihnen entzifferbar bleibt.

Zugegeben ist diese Form, Zukunft zu schaffen, eine von vielen weiteren und keine leichte dazu.

Zeitverschiebungen nennt Niklas Luhmann die Fähigkeit von Systemen, vergangene, gegenwärtige und zukünftige Ereignisse aufeinander abzustimmen, indem Prozesse antizipiert, beschleunigt oder vertagt werden. Man findet diese Prozesse gerade innerhalb demokratischer Entscheidungsfindung. Selten setzt die nämlich auf direkte und spontane Aussprache, wie sie noch in der Idee des Plenums und der Abstimmung gedacht ist. Eine Bundestagssitzung, wie die anläßlich der Wehrmachtsausstellung 1997 beispielsweise, erregt dagegen Aufsehen, weil hier tatsächlich persönliche Anteilnahme unabhängig von vorgefaßten Positionen zu spüren war.

Sicherlich bestimmen diese Zeitverschiebungen den Zeithorizont Zukunft, also die Vorstellung, oder Erzählung, die wir uns von der Zukunft machen, nicht minder. Der Horizont wird gleichsam gereinigt von Bedrohlichem. Im Vollzug dieser Zukunftsbestimmung wird dann auch die Krise zum Bestandteil der Entwicklung, wie Dietmar Kamper schreibt. Erst die Katastrophe bedeute tatsächlich das Ende.

Diese Strategie der gerechten Entscheidung stellt sich nicht gegen diese fortwährend arbeitenden Zukunftsmodelle, sie wirkt vielmehr in ihnen, indem sie deren Schwächen nutzt, so wie das Filmteam nicht nur beobachtet, sondern die Szene betritt. Freilich ist dieses eingreifende Handeln etwas indirekt, aber sind das die damaligen Parteitagsbeschlüsse von heute aus betrachtet nicht auch?

Mir scheint, daß man zunächst mit der hier erarbeitenden Strategie zufrieden sein kann.

Es gibt jedoch einen Schwachpunkt. An dieser Stelle möchte ich kurz auf eine Passage des Derrida-Texts eingehen, die verdeutlicht, daß es sich hier um eine Schwächung handelt, die als körperliche Schwächung zu verstehen ist. Sie wirkt wiederum auf die Strategie zurück. Derrida bemüht eine scharfe Metapher, um die Wirkung seiner Strategie (in Anlehnung an Benjamin) zu verdeutlichen.

" Heute braucht der Generalstreik nicht spektakulär sein und viele Menschen zu demobilisieren oder zu mobilisieren: es reicht aus, an ausgesuchten Orten (dort etwa, wo sich das öffentliche oder private Post- und Fernmeldewesen, der Rundfunk und das Fernsehen befinden) die Stromzufuhr zu unterbrechen, einige wirksame Viren in ein ausgewähltes Computer-Netz einzuführen oder - analog dazu - das entsprechende AIDS in die Übertragungsorgane, in das hermeneutische Gespräch einzulassen."

AIDS wirkt als Schwächung des Immunsystems. Das Immunsystem hat die Fähigkeit, Krankheitserreger abzuwehren. Die Abwehr meint jedoch nicht den Ausschluß, im Gegenteil, ist es unerläßlich, die Erreger anzunehmen, um sie zu erkennen. Diese partielle Öffnung jedoch reicht dem AIDS Virus aus, um zu wirken. Die Wirkung ist dabei passiv, nämlich als Kontrollverlust dieser Öffnung. Die tatsächliche Schwächung des Körpers geht dann den indirekten Weg im Verbund mit Erregern, die, eigentlich harmlos, jetzt tödlich wirken.

Das ist die Schärfe dieser Metapher, auch wenn Derrida von dem entsprechenden AIDS und nicht von das AIDS spricht.

Es fragt sich aber, ob eine Strategie der körpereigenen Schwächung sich nicht auf die Strategie selbst überträgt. Es sei daran erinnert, daß befreien, eine Zukunft schaffen, sie verkörpern, weit euphemistischer gemeint ist, als die hier angedeutete Endlichkeit zumindest eines AIDS-Kranken.

Befreien in diesem radikalen Sinne, der eine Endlichkeit mitdenkt, macht die Grenzen der Befreiung nur zu deutlich.

Der Körper bringt Endlichkeit auf den Plan. Werden Körpermetaphern benutzt, ist deren Lebendigkeit nicht ohne die Schwächung zu haben.

Damit ist die Funktion des Knies angesprochen. Das Knie tritt an zweiter Stelle im Film auf, direkt, nachdem uns die Protagonistin Gabi Teichert vorgestellt wird.

Es beruht auf einem Gedicht von Christian Morgenstern, das die für den Schnitt verantwortliche Mitarbeiterin Beate Mainka-Jellinghaus in die Arbeit einbrachte. Nachdem das Knie anfänglich das Wort ergreift, verschwindet es zunächst bis zum Ende des Films.

Dabei wird das Knie jedoch nicht gezeigt. Dieses Knie ‘verbindet aber ist nicht’, es redet lediglich. Das ist zunächst seine Abwesenheit und damit ein Sinnbild für den "Protest", der sich nicht innerhalb der Ordnung artikulieren kann.

"Ich bin das Knie, das übrig ist vom Obergefreiten Wielands Bein, Körper, oder dem ganzen Mann, zu dem ich früher gehörte, bis er am 29. Januar 1943 in Stalingrad gefallen ist, im Nordkessel. (...) niemand ist einfach nur tot, wenn er stirbt. So kann man uns nicht abschreiben, die Wünsche, die Beine, die vielen Glieder, Rippen, die Haut, die friert, und eben: wenn nichts mehr übrig ist als das: Ich, das Knie, dann muß ich reden, reden, reden."

In dieser Geschichte funktioniert das Knie als Ausweg, als Gang in die Tiefe, in die Mikroebene. Kluge zeigt das Knie im Film nicht, erst im Buch zum Film wird eine medizinische Skizze eines Kniegelenks abgebildet. Was das Knie eigentlich ist, etwa die Summe aus Kniescheibe, Knorpel, Sehnen und Gelenkknochen, oder der Zwischenraum zwischen den Elementen, ist nicht zu sehen. Das Knie entzieht sich der Vorstellung. Es gibt jedoch ein analoges Bild für einen Gang in die Mikroebene in diesem Buch.

"Der Weg nach innen ist so weit wie zu den Sterneninseln. Wenn einer über Täler, Meeresböden, Gebirgsketten, Türme von je 2 Meter Pfennigstücken pro Quadratzentimeter aufeinanderlegt (...) so hat er, ist der ganze Planet von solchen Türmen bedeckt, die Aphokrako’sche Zahl gesehen: Um die Zahl dieser Pfennige (man sieht leider nur die Türme!) befindet sich ein Panorama-Auge von einzelnen Atomen der Wirklichkeit entfernt."

Das Bild läßt sich gar nicht verfilmen, kaum denken und doch ist es konkret und bejahend. Es bleibt Hoffung, es zu versuchen. Damit ist das zukünftige dieses "verschwundenen Films" bezeichnet, daß sich erst in der sich entziehenden Wirkung dieses Knies zeigt.

Es gibt jedoch noch ein zweites Moment dieses Knies, eine eher düstere Seite, die uns auf den Körper zurückführt, indem es sich hier um ein unruhiges Gespenst handelt, das älter ist, als die Geschichte, in der es wirkt.

Man muß sich dazu die Bilder des Films vergegenwärtigen. Ich zitiere aus dem Buch zum Film: "Bild-Montage: Soldaten auf einer schneebedeckten Dorfstraße in Rußland, der Panzer überrollt ein Panzerabwehrgeschütz. Luftattacke eines Schlachtfliegers / Totenvögel auf Bäumen eines Märchenwaldes / Sarg vor offenem Grab / Farbwechsel, dasselbe Bild, Sarggrube, Spaten und auf Gestänge aufgerichteter Grabschmuck / Eule, die auf einem Sarg sitzt, Spaten davor (C.D.Friedrich) / Gruppe Soldaten, Männer in Keilform auf einer Art Bühne aufgestellt, es könnten sowohl Proletarier wie Reichsarbeiter sein."

Denken wir an die vielen Bilder von marschierenden Menschen, an Mussolinis Stechschritt ganz ohne Kniebeugung, an die arbeitenden Menschen, an die Bomben als "Konzentration von Arbeitskraft", die dieser Collage-Film uns zeigt, so wird dieses Knie in seiner mechanischen Bewegung ein Bild für den Begriff der Arbeit, der sich bei Kluge durch alles zieht. Derart äußert sich auch das Knie zum Ende des Films.

"Das Knie: ‘Wie produzierten 8 km Front und zerdepperten mit unserer Artillerie die Gebeine der anderen. Dann wurden wir umgangen und arbeiteten uns 50 km nach rückwärts. Wenn wir aber schon daran sterben, so möchte ich doch wenigstens darauf beharren, daß es Arbeit war. Es ist Mühe und Arbeit gewesen...Wenigstens für das Knie."

Die Bildmontage, die synchron zum Text läuft, wird als "Bilderwelt des Knies" beschrieben. "...kontinuierliche Bewegungen, die immer wieder kehren: durch Ferngläser ausblickende Soldaten, der Weg von Geschossen und Fahrzeugen, das Motiv: Haus (eigentlich wird für dieses Haus gekämpft), schattenhafte Erinnerungen, unkenntliche Panzerkolosse, Schwenk über Hänge."

Ich möchte hier darauf hinweisen, daß diese Heimsuchung durch die Toten, die Gestalten der Halbwelt, Gespenster oder auch Engel immer den Eindruck erweckt, daß befreien ein mühseliges, ermüdendes Geschäft ist. Das rührt sicher von dem Unvergangenen, das diese Figuren verkörpern. Wenn auch diese Hinwendung zur Vergangenheit dynamisch, also im Hinblick auf die Zukunft, gedacht ist, so ist es doch immer ein Umweg.

 

Kapitel 3

 

Das kluge Knie ist erschöpft.

Es gibt eine andere Spur, die nicht den Umweg über die Vergangenheit geht. Ich möchte ihr an einer eher unscheinbaren Stelle folgen.

Etwa drei Jahre vor jenem heißen Herbst sitzt "in einem Mittelzimmer einer Altbauwohnung" der Dichter Rolf-Dieter Brinkmann und schreibt folgenden Text:

"Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter, die Arbeiter machen weiter, die Regierungen machen weiter, die Rock’n Roll Sänger machen weiter, die Preise machen weiter, das Papier macht weiter, die Tiere und Bäume machen weiter, Tag und Nacht macht weiter, der Mond geht auf, die Sonne geht auf, die Augen gehen auf, Türen gehen auf, der Mund geht auf, man spricht, man macht Zeichen, Zeichen auf den Häuserwänden, Zeichen auf der Straße, Zeichen in den Maschinen, die bewegt werden, Bewegungen in den Zimmern, durch eine Wohnung, wenn niemand außer einem selbst da ist, Wind weht altes Zeitungspapier über einen leeren Parkplatz, wilde Gebüsche und Gras wachsen in den liegengelassenen Trümmergrundstücken, mitten in der Innenstadt, ein Bauzaun ist blau gestrichen, an den blauen Bauzaun ist ein Schild genagelt, Plakate ankleben verboten, die Plakate, Bauzäune und Verbote machen weiter, die Fahrstühle machen weiter, die Häuserwände machen weiter, die Innenstadt macht weiter, die Vorstädte machen weiter."

Was sich zunächst als Abgesang auf die Revolution anhört, kann sich heute von seinem Rhythmus her mit einer Musik verbinden, deren Prinzip die Wiederholung ist. So wurde dieser Text 1994 an der Berliner Akademie der Künste von der Performancegruppe "Frankfurter Bad" zu einem Loop aus Musik von "Tribe called Quest" und "Gangsta" gelesen, wobei die Halbsätze mit den Musiksequenzen jeweils vermengt wurden. Ich möchte im folgenden diesem Motiv des weiter machens nachgehen. Es geht nicht einfach um eine zirkuläre Zeit, die sich gegen eine lineare Zeitvorstellung absetzt. Es geht vielmehr um eine Zeitvorstellung, die nicht länger an den Körper gebunden ist (wie etwa die ursprünglichere, zirkuläre Zeit), sondern der Logik von Wiederholungen, Programmen und Regeln entspringt. Dieser Bezugsrahmen läßt sich nur schwer erfahren. Er wirkt im Verborgenen und scheint damit unabhängig von zumindest den natürlichen oder körperlich gebundenen Zeitvorstellungen.

An dieser Stelle möchte ich einen Gedanken von Gilles Deleuze anfügen., den dieser an Hand der Stücke Becketts formuliert hat, der es uns erlaubt, sich von der physischen Abhängigkeit zu distanzieren. Man könnte geneigt sein, körperliche Endlichkeit als körperliche Erschöpfung zu verstehen.

Deleuze schlägt jedoch ein produktives Verständnis von Erschöpfung vor.

Erschöpft sein heißt sehr viel mehr, als ermüdet sein. Der Ermüdete verfügt über keinerlei subjektive Möglichkeiten mehr, er kann also gar keine objektiven Möglichkeiten mehr verwirklichen. Die Möglichkeit bleibt jedoch bestehen, denn man verwirklicht nie alle Möglichkeiten, man schafft sogar in dem Maße, wie man sie verwirklicht, neue. Der Ermüdete hat nur ihre Verwirklichung erschöpft, während der Erschöpfte alles, was möglich ist, erschöpft.

Hier ist eine Doppeldeutigkeit im Spiel: Erschöpft = physisch erschöpft und erschöpft = ausgeschöpft, ausgereizt, umfassend, wie man etwa ein Thema umfassend behandeln kann.

Letzteres ist eher ein geistiger Vorgang, insofern es nicht mehr um die Verwirklichung an sich geht, als vielmehr um das Denken der Möglichkeit. Natürlich geschieht das im Körper und nicht ohne Auswirkungen auf ihn. Die Anteilnahme reduziert sich jedoch auf die Haltung des Sitzenden.

Sich hinlegen ist nie das Ende, das letzte Wort, es ist das vorletzte, und man läuft allzusehr Gefahr, ausgeruht genug zu sein, wenn auch nicht, um wieder aufzustehen, so doch wenigsten, um sich umzudrehen oder zu kriechen (...) Doch die Erschöpfung läßt sich nicht zur Ruhe betten, sie bleibt, wenn die Nacht gekommen ist, am Tisch sitzen, den entleerten Kopf auf den gefangenen Händen...

Der sitzende Mensch ist dabei nicht untätig, er tut etwas, aber zu nichts, daß heißt, daß er auf Vorlieben, Ziel oder Sinngebung jedweder Art verzichtet.

Dieser Verzicht betrifft auch ein (gerechtes) Ereignis. An dessen Stelle tritt die Endlosigkeit ohne vorher und nachher.

Diese Endlosigkeit kommt einer Endlichkeit nahe, insofern sich die ablaufende Zeit selbst der Vorstellung entzieht. Übrig bleibt reine Gegenwart: Zeit ohne Vergangenheit und Zukunft oder Zeit, in der Zukunft und Vergangenheit zusammenfallen, wie Luhmann zum Begriff der aeternitas schreibt.

Entsprechend dieser Gegenwärtigkeit ist Erschöpft zwar ein anhaltender Zustand, jedoch nur im Moment wahrzunehmen. Etwas erschöpfen, ein Bild, oder einen Raum, worauf Deleuze sich bezieht, geschieht transitorisch. Das ist das Erstaunliche: die Vorstellung Erschöpft, der ‘Schaukelstuhl im Stillstand’, von dem Deleuze spricht, ist nicht eine friedvolle, beruhigende. Sie ist nur schwer auszuhalten, wahrscheinlich, da der ungeduldige Mensch, der darauf sitzt, der Vorstellung nicht genügt und sie jäh zerstört, sobald er seinen Körper bewegt.

Es kann nur momentan ausgehalten werden, denn es ist auf Dauer zu bedrohlich.

Es ist die schlimmste Haltung, sitzend den Tod zu erwarten, ohne aufstehen oder sich hinlegen zu können, auf den Schlag lauernd, der uns ein letztes Mal auffahren läßt und uns zur Strecke bringt für immer.

Man kann fragen, was eine derart nihilistische Vorstellung von Zukunft nützt, wenn man sie nicht aushält, oder wird die Vorstellung nihilistisch, mit allen negativen Attributen, die damit zusammenhängen, indem sie nicht auszuhalten scheint?

Deleuze versucht ja, etwas Einleitendes zur Ausgabe von vier Fernsehspielen Becketts zu denken. Hieran sollte sich Erschöpft produktiv erweisen.

Dies sei kurz an einem Beispiel angedeutet.

Es geht um Becketts 1984 entstandenes Fernsehspiel Quadrat 1+ 2

Beckett gibt für dieses Spiel präzise Anweisungen über den Raum, die Figuren und ihre Handlungen.

In einem Quadrat von 6 Schritten Seitenlänge treten nacheinander vier gleichartige Personen auf, nur unterschieden durch farbige Kapuzenmänteln. Ihnen ist eine Serie von Gängen entlang der Quadratseiten und der Diagonalen vorgegeben. Dabei werden sie von je einem Percussionsinstrument begleitet.

Der Raum und die Figuren sind derart abstrakt gehalten, daß man über sie nichts erfahren kann. Keine Stimmen, keine Erzählung, einzig ein spezifischer Gang, aber "das alles dient nur dazu, sie (die Figuren W.D.E.) zu erkennen; sie sind in sich selbst nur räumlich determiniert, sie sind durch nichts anderes affiziert, als durch ihre Reihenfolge und ihre Position."

Aus den Anweisungen ist ersichtlich, daß es dreimal pro Serie eine Situation geben wird, an der zwei Darsteller zugleich an einem Punkt sein werden, dem Mittelpunkt. Deleuze spricht daher von diesem Punkt als "Potentialität des Quadtrats".

"Der Mittelpunkt ist genau der Ort, an dem (die vier Körper) zusammentreffen können; und ihr Zusammentreffen, Zusammenprallen, ist nicht ein Ereignis unter anderen, sondern das einzig mögliche, d.h. die Potentialität des entsprechenden Raums."

Der Raum wird erschöpft, in dem dieses Ereignis, das Zusammentreffen, unmöglich gemacht wird. Die Darsteller weichen aus mit einem "Hüftschwung" , in der zweiten Fassung machen sie zwei Ausfallschritte kurz vor dem Mittelpunkt.

 

Ein Zusammenstoß würde nicht kontrollierbar sein. Nicht einmal die Regel, nicht zusammenstoßen zu dürfen, ohne Maßgabe, wie das zu verhindern sei, wäre ausreichend. Das Spiel wäre gefährdet, vorzeitig beendet zu werden. Man wäre nämlich gespannt auf die Entscheidung der Darsteller, das Ereignis zu verhindern. Wenn diese Entscheidung gefallen ist, wäre das Ziel des Spiels erreicht und die Spannung heraus.

Mir scheint aber Quadrat als ein Spiel ohne Ende gedacht.

So hat Beckett in der zweiten Fassung den eher persönlichen "Hüftschwung", ein Begriff, den Deleuze hier in "" setzt, durch Schritte ersetzt, die Elemente der Performance sind.

Deleuze beschreibt Becketts Arbeit mit den Worten Blanchots: "…allergrößte Genauigkeit und höchstgradige Auflösung; der endlose Austausch von mathematischen Formulierungen und die Verfolgung des Formlosen oder Unformulierten."

Die "allergrößte Genauigkeit" liegt bei Quadrat in der Beschränkung auf einfache Elemente: Auftritt, Gang, Begegnung, Abgang, wieder der leere Raum. Dazu menschliche Darsteller, die den anderen Elementen angeglichen sind. Die Kapuzenmäntel machen aus ihnen gesichtslose Typen mit einfachen Attributen: weiss, Auftritt links hinten, blau, Auftritt an zweiter Position vorne links usw.

Man kann diese Typen nicht länger in Konfrontation zu den abstraken Darstellungsmitteln und den Spielregeln denken. Nichts Individuelles tritt hier etwa im Kontrast zu den immer gleichen Abläufen hervor. Auch ist Quadrat nicht als Gleichnis zu verstehen, etwa für eine Regel, die unmenschlich erscheint, indem man ihr zu folgen hat, obwohl sie Unmögliches fordert und den Darsteller herausfordert.

Es handelt sich bei den Darstellern tatsächlich um nichts weiter, als den Teil eines größeren Ganzen, daß Deleuze ein "Bewegungsritornell" nennt. "Die Form des Ritornells ist die Serie, die hier nicht mehr die zu konbinierenden Objekte betrifft, sondern nur die Wege ohne Objekte."

Auf der Ebene der Bewegung erst wird die "höchstmögliche Auflösung" ersichtlich, die sich hier vor allem auf die körperliche Präsenz bezieht.

Nicht einmal der Gang ist wichtig, tatsächlich könnten die Darsteller auch bewegt werden, wie mit einem "Laufband, das die in Bewegung befindlichen Körper zum Vorschein und wieder zum Verschwinden bringt."

Wichtig sind also die Wege selbst in diesem Kunstraum. Sie existieren bereits, bevor sie begangen werden. Sie sind ablesbar in der Regel. Es ist nicht nur der Punkt A und der Punkt C, die den Weg kennzeichnen, es ist die Anweisung selbst, Spieler 1 tritt auf bei A und gehe nach C, die den Weg ermöglicht.

Die Regel selbst als Abfolge von Wegen tritt hervor. So wird der Mittelpunkt, die Wegkreuzung als Unmöglichkeit ersichtlich. Sie dringt nicht von außen, als darstellerisches Unvermögen etwa, in das System ein, sie ist die Formlosigkeit innerhalb der Form selbst. Das ist der springende Punkt, um den es Beckett gehen muß. Eine leichte Änderung in der Spielanweisung genügte ja, das Spiel perfekt zu machen. Das aber wäre zu einfach und ließe den hier notierten Fall nur unbehandelt, nicht aber undenkbar zurück.

Quadrat jedoch beweist, daß die "Verfolgung des Formlosen" kein einfacher Vorgang ist und jedenfalls dieser Spielregel nicht gelingt. Der "Hüftschwung" ist ablesbar.

Ein Widerspruch in der Regel, die diese zugleich übersteigt, ist uns bereits in der Aporie des gerechten Entscheidung begegnet, wie Derrida sie darlegt. Im Unterschied zu dieser Entscheidung kommt jedoch Becketts Spielregel ohne ein Bewußtsein aus, welche sich dieser Aporie stellt und trotzdem blind weiter geht.

Aporie, kein Weg, ist hier aus den Wegen selbst begründet, ein Überlappen zweier Bewegungen, die sich aufheben. Hier hilft es nicht, unbewußt weiter zu gehen und einfach im Wahn zu entscheiden. Es hat sich bereits entschieden. Die Kunst ist es, das einen Moment sichtbar zu machen.

Das ist doch erstaunlich. Man muß sich ja fragen, wie eine deterministische Darstellung etwas bewirken kann, was mithin der Freiheit (der Kunst) nahe kommt, nämlich ein reiches, explosives und zugleich erschöpftes Bild zu schaffen. Auf einem Symposium zur Zukunft des Theaters sagt Hans-Thies Lehmann zum Einfluß von Speichermedien und programmierbaren Apparaten zur Kunstproduktion:

"…das Theater (hat) es heute mit einer Situaion zu tun, wo nicht viel fehlte und die Formel von Norbert Bolz träfe zu: Freiheit ist Wahlfreiheit, Wahlfreiheit zeigt sich als Steuerungsproblem, Steuerung ist Entscheidung, und Entscheidung läßt sich als Berechnung automatisieren"

Während Lehmann vorschlägt, "Freiheit aus einem Horizont des Gattungswesen Mensch zu denken", sollte Quadrat m.M.n. dazu Anlaß geben, die Befreiung aus diesem Horizont zu lösen, zumindest, wenn damit das Ideal des befreiten Menschen allein gemeint ist. Befreiung geschieht von selbst, nämlich auf der untersten eben der Formel von Bolz, innerhalb der automatisierten Prozesse, die uns so unfrei erscheinen.

Es gibt also zwei Arten der Befreiung. Ein Ereignis, eine Zukunft schaffen. Derrida spricht hier davon, daß die "Zeit zerreißt." Dagegen erscheint die Befreiung, die geschieht, wie eine Aufhebung der Zeit, da nicht gesagt ist, wann, mit welcher Dringlichkeit die Befreiung stattfindet. Sich in dieser Welt bewegen ist, wie die Unendlichkeit umarmen.

Betrachten wir an dieser Stelle noch einmal die Fragestellung, die zu dieser Schrift Anlaß gab. Die Vergangenheit von der Zukunft befreien? Die Zukunft von der Vergangenehti befreien?

Wir können jetzt präzisieren. Im Versuch, die Frage zu beantworten, habe ich mich implizit an dem Wie orientiert. Wie kann man die Vergangenheit und die Zukunft befreit denken? Die Verkörperung des Freiheitsideals, wie im zweiten Abschnitt beschrieben, wäre eine Möglichkeit. Die Position des Erschöpften wäre eine weitere.

Worin unterscheiden sich diese Möglichkeiten? Nun, im ersten Fall kann ich fragen: Soll ich, soll man die Vergangenheit von der Zukunft befreien?

Es macht Sinn, so zu fragen, denn es besteht die Möglichkeit, zu befreien durch körperlichen Einsatz. Das schien eigentlich nie außer Frage zu stehen. Es ist das Freiheitsideal, wie es Delacroix’ Allegorie der Freiheit, die das Volk führt, uns überliefert. Ein Ideal aber ist es in der Tat, denn es fällt schwer, die Szene für einen derartigen Auftritt zu finden.

Heute muß man diese Befreiung wohl im Kleinen, innerhalb des subjektiven Horizonts suchen.

Und im Verlauf dieser Suche kann es sein, daß man tatsächlich an einen Punkt gerät, der sich als Erschöpfung beschreiben läßt. (Schließlich scheint ja auch die Wahl zwischen diesen beiden Vorstellungen nur mehr als erneute Wahl, die zu bedenken ist, ohne, daß unmittelbar etwas daraus folgt.)

Ich glaube, daß es einige Gründe gibt, diese zweite Form der Befreiung hier anzuführen. Sie könnte als Orientierung dienen.

Ein kurzes Beispiel mag das verdeutlichen: 1998, 30 Jahre nach der sogenannten Studentenrevolution, sehen sich die jetzt Studierende vor dem Paradox, einen Protest zu äußern, der durch alle politischen Lager hindurch Verständnis findet.

Was aber ist Protest, wenn er sich nicht gegen jemanden oder etwas richtet? Alte Kämpfer sehen sich darin bestätigt, daß es ihrer Nachfolgegeneration an Engagement fehle. Darüber kann man spekulieren.

Auf einer subtilen Ebene deutet sich hier jedoch ein Perspektivenwechsel an. Wenn es schwer fällt, einen gesellschaftlichen Standpunkt zu definieren, ist vielleicht die Suche falsch. Leichter hingegen ist es, sich als Teil eines heterogenen Ganzen, eines Rhizomes zu sehen. Nur wer noch zu sagen weiß, was Fortschritt sei, kann hierin einen Aufruf zur Passivität oder Rückschrittlichkeit sehen.

Wir haben mit einem Begriff von befreien argumentiert, der sich auf den Körper und bestimmte Emotionen bezieht. Dieser Bezug scheint mit der Verschiebung des Begriffs Befreiung verloren.

Es handelt sich bei dieser Verschiebung nur um einen scheinbaren Gegensatz. Beide Formen sind Formen der Wahrnehmung, ästhetischer Art mithin - ein System bauen, das sich befreit und erschöpft, das sind schwer faßbare, energetische Vorstellungen. Beide Vorstellungen sind dabei auf der Mikroebene angesiedelt und unterlaufen die große Vision.

Ihr Unterschied ist hier konstruiert, denn auch Derrida bezieht sich auf Zeichensysteme und ihre Brüche und Verschiebungen, die unabhängig vom Subjekt wirken. Umgekehrt ist auch Deleuzes Überlegung keine reine, sie braucht die Verwirklichung als Text oder Spiel, um zu wirken.

Es ist jedoch ein Anliegen, der einseitigen Ausrichtung auf ein Freiheitsideal, hier kann man sagen, alter Prägung, etwas entgegen zu setzen. Das geschieht vor allem im Hinblick auf den Begriff der Arbeit an der Geschichte oder der Erinnerung, auch der Arbeit an der Zukunft. Diese ewige Arbeit ermüdet tatsächlich.

Ich möchte zum Schluß ein Gleichnis anführen, das des Sisyphos, das vielleicht, wenn man Glauben schenkt, perspektivisch vermitteln kann zwischen beiden Arten der Befreiung.

Sisyphos, der Frevler, hat von den Göttern den Fluch auferlegt bekommen, einen schweren Stein den Berg hinauf zu rollen. Oben angekommen rollt der Stein wieder zu Tale und die Arbeit beginnt von vorn.

Albert Camus beschreibt uns Sisyphos derart: "So sehen wir (…), wie ein angespannter Körper sich anstrengt, den gewaltigen Stein fortzubewegen, ihn hinaufzuwälzen und mit ihm wieder und wieder einen Abhang zu erklimmen; wir sehen das verzerrte Gesicht, die Wange, die sich an den Stein schmiegt, sehen, wie eine Schulter sich gegen den erdbedeckten Koloß legt, wie ein Fuß ihn stemmt und der Arm die Bewegung aufnimmt, wir erleben die ganze menschliche Selbstsicherheit zweier erdbeschmutzter Hände."

Aus der Mythenfigur Sisyphos wird in diesem Loblied der menschlichen Arbeit ein "rebellischer Prolet". Er ist dem ewigen Fluch der Götter überlegen, indem er sich ohne Hoffnung auf Erlösung trotzdem gegen sein Schicksal stellt. Zwar muß er immer wieder zu dem Stein zurückkehren, er kann ihn nicht liegen lassen. Aber die Götter vermögen nicht, das Leiden zu befehlen. "Der Kampf gegen den Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen."

Camus schlägt daher vor, in Sisyphos einen glücklichen Menschen zu sehen.

Man kann mit einigem Recht die Erlösung des Sisphos von der Arbeit eines anderen Körpers denken, dem Stein.

Zwar ist ein Gleichnis zeitlos gedacht. Sisyphos muß ewig sein, damit der Fluch ewig auf ihm lastet. Ewig wirksam ist jedoch nicht allein der Spruch der Götter, es sind auch die Gesetze der Natur. Die Götter bedienen sich ihrer, denn der Stein gehorcht ja nicht ihnen, sondern dem Gesetz der Schwerkraft, dem gemäß er wieder zu Tale rollt. Und ist dieses Gesetz wirksam, dann sicher auch der zweite Grundsatz der Thermodynamik, der uns den Stein heute, nach 2500 Jahren, beträchtlich kleiner vorstellen läßt.

 

Literaturliste

 

 

Barthes, Roland: Die helle Kammer, Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M. 1985

Beckett, Samuel: The Complete Dramatic Works, London, Boston 1986

Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte, in Gesammelte Schriften, Bd. I.2, Frankfurt a.M. 1977

ders.: Zur Kritik der Gewalt, in: Gesammelte Schriften, Bd. II.1, Frankfurt a.M. 1977

Bolz, Norbert: Theorie der neuen Medien, München 1990

Brinkmann, Rolf-Dieter: Westwärts 1&2, Gedichte, Reinbeck bei Hamburg 1979 (1980)

Brock, Bazon: Zeitkrankheit. Therapie: Cronisches Warten, in: Heller, Martin, Scholl Michael, Tholen, Georg Christoph,: Zeitreise. Bilder, Maschinen, Strategien, Rätsel, Zürich 1993

Camus, Albert: Der Mythos von Sisyphos, in: ders.: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde, (Le Mythe de Sisyphe, Paris 1942, übers.v. Hans Georg Brenner und Wolfdietrich Rasch) Düsseldorf 1956

Deleuze, Gilles: Erschöpft, Essay (A.d. Franz. v. Erika Tophoven), Frankfurt a.M 1992

Derrida, Jacques: Gesetzeskraft. Der >>mythischen Grund der Autorität<< (Force de loi. Le >>fondement mystique de l’autorité<<, a. d. Franz. v. Alexander Garcia Düttmann), Frankfurt a.M. 1991

ders.: Falschgeld. Zeit geben 1 (Donner le temps 1: La fausse monnau, Paris 1991, a. d. Franz. v. Andreas Knop und Michael Wetzel), München 1993

Iles, Chrissie (Hg.): Marina Abramovic. Object. Performance. Video. Sound, Oxford 1995

Kamper, Dietmar: Unmögliche Gegenwart. Zur Theorie der Phantasie, München 1995

Kittler, Friedrich: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986

Kluge, Alexander: Die Patriotin, Frankfurt a.M. 1979 (1980)

ders.: Theodor Fontane, Heinrich von Keist und Anna Wilde. Zur Grammatik der Zeit, Berlin 1987

ders. und Negt, Oskar: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt a.M. 1972 (1976)

Lehmann, Hans-Thies: Theater und Gedächnis, in: Vision Zukunft #1 - Theater 2010, (herausg. v. Künstlerhaus Mousonturm), Frankfurt a.M. 1997

Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1987

Schade, Sigrid: Der Schnappschuß als Familiengrab, Entstellte Erinnerung im Zeitstil der Photographie, in: Heller, Martin, Scholl Michael, Tholen, Georg Christoph,: Zeitreise. Bilder, Maschinen, Strategien, Rätsel, Zürich 1993

The Holocaust, vol. 11, The Wannsee Protocol an a 1944 Report on Auschwitz by the Office of Strategic Services, New York, London 1982

Virilio, Paul: Bunker Archéologie, Paris 1975 (1991)

 
 
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